Ortsteil Reichelsheim / Friedhof: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Historisches Reichelsheim
 
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Der alte Reichelsheimer Friedhof war auf dem Kirchhof angelegt. Insofern hatte der Begriff Friedhof, Kirchhof oder auch Totenhof die gleiche Bedeutung.
 
Der alte Reichelsheimer Friedhof war auf dem Kirchhof angelegt. Insofern hatte der Begriff Friedhof, Kirchhof oder auch Totenhof die gleiche Bedeutung.
  
Dort wo heute noch ein kleiner Rest der alten Kirchmauer zu erkennen ist, war früher eine mit Schießscharten versehene hohe Ringmauer mit mehreren Türmen. <br>
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Dort wo heute noch ein kleiner Rest der alten Kirchmauer zu erkennen ist, war früher eine mit Schießscharten versehene hohe Ringmauer mit mehreren kleineren Türmen. <br>
Dieser alte Friedhof und der letzte Rest eines Turmes an der Südostseite der Kirche ist laut einem Eintrag im Kirchenbuch in den 1860er Jahren erst abgetragen worden. <br>
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Dieser alte Friedhof und der letzte Rest eines Turmes an der Südostseite der Kirche ist laut einem Eintrag im Kirchenbuch in den 1860er Jahren endgültig abgetragen worden. <br>
  
Die "aufrechten" [http://de.mittelalter.wikia.com/wiki/B%C3%BCrgertum Bürger] der Gemeinde wurden seit jeher rund um die Kirche auf dem Totenhof -  die Mitglieder der Herrschaftsfamilie auch innerhalb der Kirche beigesetzt. Diesen Anspruch machten z.B. der [[Ortsteil Reichelsheim / Fürst Heinrich zu Schwarzenburg-Sondershausen|Fürst Heinrich zu Schwarzenburg-Sondershausen]] und der [https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Ludwig_(Nassau-Ottweiler) Graf Johann Ludwig von Nassau-Ottweiler] geltend.<br>
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Die "aufrechten" [http://de.mittelalter.wikia.com/wiki/B%C3%BCrgertum Bürger] der Gemeinde wurden seit jeher rund um die Kirche auf dem Totenhof -  die Mitglieder der Herrschaftsfamilie auch innerhalb der Kirche beigesetzt. Diesen Anspruch machten z.B. der [[Ortsteil Reichelsheim / Fürst Heinrich zu Schwarzburg-Sondershausen|Fürst Heinrich zu Schwarzburg-Sondershausen]] und der [https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Ludwig_(Nassau-Ottweiler) Graf Johann Ludwig von Nassau-Ottweiler] geltend.<br>
  
 
Im Juni 1668 bestattete Pfarrer Frech seinen ertrunkenen Sohn sogar vor dem Pfarrstuhl. <br>
 
Im Juni 1668 bestattete Pfarrer Frech seinen ertrunkenen Sohn sogar vor dem Pfarrstuhl. <br>
  
So blieben die Toten immer im Gedächtnis ihrer Angehörigen und der Gemeinde weil man beim Kirchgang regelmäßig an ihren Gräbern vorbei schritt.
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So blieben die Verstorbenen immer im Gedächtnis ihrer Angehörigen und der Gemeinde, weil man beim Kirchgang regelmäßig an ihren Gräbern vorbei schritt.
 
   
 
   
Vor den Toren wurden nur diejenigen unter die Erde gebracht, die wegen eines tatsächlichen oder angenommenen Verbrechens gegen die menschlich-christliche Gemeinschaft verstoßen worden waren.  
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Vor den Toren wurden nur diejenigen unter die Erde gebracht, die wegen eines tatsächlichen oder angenommenen Verbrechens gegen die menschlich-christliche Gemeinschaft verstoßen worden waren. Vor den Toren heißt in diesem Fall außerhalb der Kirchenmauer und diese Aussage hatte nur solange Gültigkeit, wie es ausschließlich den "Totenhof" rund um die Kirche gab.
  
Der neue Friedhof außerhalb der (nicht mehr vorhandenen) Stadtmauern wurde aufgrund des Napoleonischen Dekretes vom 23 prairial an XII (12. Juni 1804) angelegt.
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Durch das starke Bevölkerungswachstum im 18.Jh. waren die Kirchhöfe oft überbelegt, und die dadurch verursachten Mehrfachbelegungen führten zu einem hygienisch bedenklichen Zustand.
  
Eine umfassende und nachhaltige Änderung des Bestattungswesens war die Folge dieses Erlasses ... zuerst in Frankreich und dann auch in allen französisch besetzten Ländern. <br>
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Alleine [[Ortsteil Reichelsheim / Reichelsheim und die Pest|in den durch Kirchnebucheintragungen dokumentierten, schlimmsten Jahren der Pest]] 1613 (127 Todesopfer laut Kirchenbuch) und 1627 (187 Todesopfer laut Kirchenbuch) waren in kürzester Zeit so viele Gemeindemitglieder zu bestatten, daß davon auszugehen ist, daß es für diese Menschen außerhalb der alten Stadtmauern eine Grabstätte gegeben haben muß.  
  
Durch das starke Bevölkerungswachstum im 18.Jh. seien die Kirchhöfe oft überbelegt, und die dadurch verursachten Mehrfachbelegungen führten zu einem hygienisch bedenklichen Zustand. <br>
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Die neuen Friedhöfe konnten aus Platzgründen meist nicht mehr innerhalb der Ortschaften angelegt werden, was sicherlich nicht so einfach umzusetzen war. Es mußte ein Umdenken stattfinden. Jetzt auf einmal sollten alle außerhalb der Kirchmauern - außerhalb ihrer Kirchgemeinde bestattet werden.<br>
Es durften keine Beerdigungen mehr innerhalb der Ortschaften stattfinden. Die neuen Friedhöfe sollten in rechteckiger Form jenseits der Ortsgrenze von einer Mauer umgeben errichtet werden. Die Begräbnisse sollten der Reihe nach in einem Einzelgrab und nicht mehr übereinander erfolgen. Auch die Mindestmaße für die Grabbreite und Tiefe sowie die Grababstände gab das Dekret explizit vor.
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Den Kirchhof als Begräbnisstätte aufgeben müssen ... alte, möglicherweise Jahrhunderte lang bestehende Rituale waren nun nicht mehr durchführbar.
  
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Der neue Friedhof außerhalb der (zu dieser Zeit teils nicht mehr vorhandenen) Stadtmauern wurde vor dem letzten noch erhaltenen westlichen Stadttor angelegt. Diesem Umstand ist es sicherlich zu verdanken, daß dieses Tor heute noch existiert. Seither wird das einstige Stadttor nun Friedhofstor und der einstige Befestigungsturm nun [[Ortsteil Reichelsheim / Ortsbefestigung / Friedhofsturm|Friedhofsturm]] genannt. Zu welcher Zeit dieser Friedhof angelegt wurde ist unbekannt. Evtl. erfahren wir etwas darüber, wenn zufällig jemand in den alten Reichelsheimer Akten darauf stößt. In der ältesten noch vorhanden Kartierung, ein [[:Datei:Reichelsheim 1761.jpg|"Geometrischer Plan des Fleckens Reichelsheim" aus dem Jahr 1761]] ist der heutige Friedhof bereits eingezeichnet.
  
Jetzt auf einmal sollten alle außerhalb der Kirchmauern - außerhalb ihrer Kirchgemeinde bestattet werden.<br>
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Der älteste Teil des "neuen" Friedhofes reichte bis zum [[Ortsteil Reichelsheim / Ortsbefestigung / Haingraben|Haingraben - dem wasserführenden Schutzgraben.]] Das kann man erkennen, wenn man der Friedhofsummauerung entlang geht.
Den Kirchhof als Begräbnisstätte aufgeben müssen ... dieser Umdenkprozess war sicherlich nicht so einfach umzusetzen.
 
  
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Die Friedhofsmauern im vorderen Teil sind etwas dicker und mit Sandsteinplatten abgedeckt - teilweise sind auf diesen Platten Zeichen oder Inschriften erkennbar.  Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen dem Abtragen der alten Kirchhofummauerung und dem Bau der Friedhofsmauer. Evtl. wurden die Steine der abgetragenen Kirchhofmauer, als auch alte Grabplatten zum Bau der heutigen Friedhofsmauer verwendet. Jahre später ist der Friedhof bis zum [[Ortsteil Reichelsheim / Feuergraben|Feuergrabenweg]] erweitert worden. Diese Mauern sind etwas schlanker und haben eine Abdeckung aus Ziegelsteinen. Gemäß zweier Skizzen aus den Jahren 1818 und 1873 hatte man dazu den offensichtlich noch wasserführenden Haingraben entlang der erweiterten Friedhofsmauer umgeleitet.
  
Das erste Grab auf dem heutigen Friedhof in Reichelsheim wurde im Januar 1806 belegt.<br>
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Diese Erweiterung ist offensichtlich die Folge eines von Napoleon verfügten Erlasses "Le décret loi du 23 prairial an XII" (12. Juni 1804) ... zuerst in Frankreich und dann auch in allen französisch besetzten Ländern: <br>
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Dieses Dekret führte zu einer umfassenden und nachhaltigen Änderung des Bestattungswesens. Es durften keine Beerdigungen mehr innerhalb der Ortschaften stattfinden. Die neuen Friedhöfe sollten in rechteckiger Form jenseits der Ortsgrenze von einer Mauer umgeben errichtet werden. Die Begräbnisse sollten der Reihe nach in einem Einzelgrab und nicht mehr übereinander erfolgen. Auch die Mindestmaße für die Grabbreite und Tiefe sowie die Grababstände gab das Dekret explizit vor.
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'''Das erste Grab auf dem "neuen" Friedhof in Reichelsheim wurde im Januar 1806 belegt.'''<br>
 
Im Sterberegister unserer Kirchenchronik ist zu lesen: <br>
 
Im Sterberegister unserer Kirchenchronik ist zu lesen: <br>
22. Jan 1806 NB (nota bene)<ref>übrigens oder auch wohlgemerkt</ref> Auf dem Begräbnisplatz - der Reihe nach beerdigt. Johann Wilhelm Ulrich, Bürger, starb an einem Katarrhalsfieber<ref>Dieses Katarrhalsfieber ist übrigens nicht mit der fast gleichlautenden Viruserkrankung Katarrhalfieber (geschrieben ohne s) zu verwechseln, denn diese wurde erstmals im Jahre 1877 beobachtet und betrifft nur Paarhufer bzw. Wiederkäuer wie Rinder und Schafe.<br>Über Katarrhalsfieber, als epidemische aus dem englischen kommende Krankheit wird dagegen schon in der ''"Samlung von Beobachtungen aus der Arzneygelahrheit und Naturkunde"'' von Johann Augustin Philipp Gesner aus dem Jahr 1773 berichtet.</ref>
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22. Jan 1806 NB<ref>nota bene = übrigens oder auch wohlgemerkt</ref> Auf dem Begräbnisplatz - der Reihe nach beerdigt. Johann Wilhelm Ulrich, Bürger, starb an einem Katarrhalsfieber<ref>Dieses Katarrhalsfieber ist nicht mit der fast gleichlautenden Viruserkrankung Katarrhalfieber (geschrieben ohne s) zu verwechseln, denn diese wurde erstmals im Jahre 1877 beobachtet und betrifft nur Paarhufer bzw. Wiederkäuer wie Rinder und Schafe.<br>Über Katarrhalsfieber, als epidemische aus dem englischen kommende Krankheit wird dagegen schon in der ''"Samlung von Beobachtungen aus der Arzneygelahrheit und Naturkunde Band 4"'' von Johann Augustin Philipp Gesner aus dem Jahr 1773 berichtet.</ref>und ward auf bescheinigte Besichtigung früher begraben und war der erste, der in die neue Begräbnisstätte beerdigt wurde.
und ward auf bescheinigte Besichtigung früher begraben und war der erste, der in die neue Begräbnisstätte beerdigt wurde.
 
  
 
Im Familienbuch von Reichelsheim findet man den dazugehörigen Eintrag: <br>
 
Im Familienbuch von Reichelsheim findet man den dazugehörigen Eintrag: <br>
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*[https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v875569 Erweiterung und Neuanlage von Friedhöfen zu Dorn-Assenheim und Reichelsheim/Wetterau aus den Jahren 1817, 1837-1838 und 1863 (nicht digitalisierte Akte im Staatsarchiv)]
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*In einer Akte zum Plan des "neuen Kirchhof" aus dem Jahre 1818 wird aufgeführt, daß der Friedhof zu klein sei: ''"382 Tode sind zu Reichelsheim in zwanzig Jahren begraben worden - nemlich 128 alte und 254 Kinder"''
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*Aus den Jahren 1873/1874 sind Akten zu einer geplanten Erweiterung des Kirchhofs/Todenhofs im Stadtarchiv vorhanden
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*1877 wird im Brandkataster ein Schoppen für die Totenbahre mit aufgenommen
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*im Juli 1911 wird eine Friedhofordnung verabschiedet
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*[[Ortsteil Reichelsheim / Ehrenmal der Gefallenen beider Weltkriege|Nach dem ersten Weltkrieg stiftet der Verein ehemaliger Frontkämpfer seinen gefallenen Kameraden ein Ehrenmal auf dem Friedhof.]]
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*1928 schreibt der hiesige Pfarrer in den Reichelsheimer Heimatglocken (Kirchenzeitschrift), daß es eine zwingende Notwendigkeit ist, die Beschaffung eines Leichenwagens baldigst in die Wege zu leiten. Es ist nicht mehr zeitgemäß, daß die Särge von Männern nach dem Friedhof getragen werden.
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*1948 wird eine kleine Trauerhalle gebaut. Bis dahin war es üblich, daß die Verstorbenen zuhause entweder in deren Wohnung oder in einem Schoppen oder auch - wenn vorhanden - in der Tenne aufgebahrt wurden.
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*in 1958 ließ die Ortsgruppe Reichelsheim des 1950 bundesweit gegründeten Verbandes der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen das o.g. Ehrenmal der ehem. Frontkämpfer um die Tafeln der im zweiten Weltkrieg Vermissten und Gefallenen erweitern.
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*1966 wurde der Friedhof über den [[Ortsteil Reichelsheim / Feuergraben|Feuergrabenweg]] hinweg in Richtung Westen auf nahezu die doppelte Fläche erweitert. Auf dem "jetzt aktuell neuen" Friedhof wurde eine neue, deutlich größere Trauerhalle errichtet.
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== Anmerkungen ==
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Rhm_Inschrift_Eckpfeiler_Sakristei.jpg|Eine Inschrift aus dem Jahre 1609 an einem Eckpfeiler der Sakristei unserer Kirche, die auf einen Begräbnisplatz auf dem Kirchhof hinweist
 
  Rhm Friedhof um 1900.jpg|Wohl älteste Aufnahme des Reichelsheimer Friedhofs um 1900
 
  Rhm Friedhof um 1900.jpg|Wohl älteste Aufnahme des Reichelsheimer Friedhofs um 1900
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Rhm_Trauerhalle 1966.jpg|Die neu  gebaute Trauerhalle auf der Erweiterungsfläche im Dezember 1966
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Datei:Rhm Ehrenmal der Gefallenen WW1.jpg|Ehrenmal der Gefallenen des 1. Weltkrieges, gestiftet vom Verein ehemaliger Frontkämpfer
 
  Rhm Erweiterung Ehrenmahl 1958.jpg|Einweihung des um die Toten des zweiten Weltkrieges erweiterten Ehrenmahls des ersten Weltkrieges
 
  Rhm Erweiterung Ehrenmahl 1958.jpg|Einweihung des um die Toten des zweiten Weltkrieges erweiterten Ehrenmahls des ersten Weltkrieges
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Rhm Gedenkveranstaltung am Ehrenmal.jpg|Volkstrauertag am Ehrenmal der Gefallenen - Im Hintergrund die Totenhalle aus dem Jahr 1948
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Rhm Ehrenmaleinweihung Nov 1984.jpg|Der neu gestaltete Eingangsbereich bis zum Ehrenmal im November 1984
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Rhm Ehrenmal Friedhof in 1984.jpg|Das Ehrenmal im November 1984
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Rhm Ehrenmal Friedhof WW1u2.jpg|Tafeln am Ehrenmal auf dem alten Teil des Friedhof Reichelsheim in 2014
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Rhm Ehrenmal Friedhof in 2022.jpg| Das Ehrenmal im Sommer 2022
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Rhm Gedenkstein1 Friedhof.jpg|sandsteinerne Tafel in der Friedhofsmauer - Zum Gedenken an die Pestopfer der Familie Wilhelm Grombach im Jahre 1613
 
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== Anmerkungen ==
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[[Kategorie:Ortsteil Reichelsheim|Friedhof]]
 
<references />
 

Aktuelle Version vom 28. März 2024, 14:52 Uhr

Der alte Reichelsheimer Friedhof war auf dem Kirchhof angelegt. Insofern hatte der Begriff Friedhof, Kirchhof oder auch Totenhof die gleiche Bedeutung.

Dort wo heute noch ein kleiner Rest der alten Kirchmauer zu erkennen ist, war früher eine mit Schießscharten versehene hohe Ringmauer mit mehreren kleineren Türmen.
Dieser alte Friedhof und der letzte Rest eines Turmes an der Südostseite der Kirche ist laut einem Eintrag im Kirchenbuch in den 1860er Jahren endgültig abgetragen worden.

Die "aufrechten" Bürger der Gemeinde wurden seit jeher rund um die Kirche auf dem Totenhof - die Mitglieder der Herrschaftsfamilie auch innerhalb der Kirche beigesetzt. Diesen Anspruch machten z.B. der Fürst Heinrich zu Schwarzburg-Sondershausen und der Graf Johann Ludwig von Nassau-Ottweiler geltend.

Im Juni 1668 bestattete Pfarrer Frech seinen ertrunkenen Sohn sogar vor dem Pfarrstuhl.

So blieben die Verstorbenen immer im Gedächtnis ihrer Angehörigen und der Gemeinde, weil man beim Kirchgang regelmäßig an ihren Gräbern vorbei schritt.

Vor den Toren wurden nur diejenigen unter die Erde gebracht, die wegen eines tatsächlichen oder angenommenen Verbrechens gegen die menschlich-christliche Gemeinschaft verstoßen worden waren. Vor den Toren heißt in diesem Fall außerhalb der Kirchenmauer und diese Aussage hatte nur solange Gültigkeit, wie es ausschließlich den "Totenhof" rund um die Kirche gab.

Durch das starke Bevölkerungswachstum im 18.Jh. waren die Kirchhöfe oft überbelegt, und die dadurch verursachten Mehrfachbelegungen führten zu einem hygienisch bedenklichen Zustand.

Alleine in den durch Kirchnebucheintragungen dokumentierten, schlimmsten Jahren der Pest 1613 (127 Todesopfer laut Kirchenbuch) und 1627 (187 Todesopfer laut Kirchenbuch) waren in kürzester Zeit so viele Gemeindemitglieder zu bestatten, daß davon auszugehen ist, daß es für diese Menschen außerhalb der alten Stadtmauern eine Grabstätte gegeben haben muß.

Die neuen Friedhöfe konnten aus Platzgründen meist nicht mehr innerhalb der Ortschaften angelegt werden, was sicherlich nicht so einfach umzusetzen war. Es mußte ein Umdenken stattfinden. Jetzt auf einmal sollten alle außerhalb der Kirchmauern - außerhalb ihrer Kirchgemeinde bestattet werden.
Den Kirchhof als Begräbnisstätte aufgeben müssen ... alte, möglicherweise Jahrhunderte lang bestehende Rituale waren nun nicht mehr durchführbar.

Der neue Friedhof außerhalb der (zu dieser Zeit teils nicht mehr vorhandenen) Stadtmauern wurde vor dem letzten noch erhaltenen westlichen Stadttor angelegt. Diesem Umstand ist es sicherlich zu verdanken, daß dieses Tor heute noch existiert. Seither wird das einstige Stadttor nun Friedhofstor und der einstige Befestigungsturm nun Friedhofsturm genannt. Zu welcher Zeit dieser Friedhof angelegt wurde ist unbekannt. Evtl. erfahren wir etwas darüber, wenn zufällig jemand in den alten Reichelsheimer Akten darauf stößt. In der ältesten noch vorhanden Kartierung, ein "Geometrischer Plan des Fleckens Reichelsheim" aus dem Jahr 1761 ist der heutige Friedhof bereits eingezeichnet.

Der älteste Teil des "neuen" Friedhofes reichte bis zum Haingraben - dem wasserführenden Schutzgraben. Das kann man erkennen, wenn man der Friedhofsummauerung entlang geht.

Die Friedhofsmauern im vorderen Teil sind etwas dicker und mit Sandsteinplatten abgedeckt - teilweise sind auf diesen Platten Zeichen oder Inschriften erkennbar. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zwischen dem Abtragen der alten Kirchhofummauerung und dem Bau der Friedhofsmauer. Evtl. wurden die Steine der abgetragenen Kirchhofmauer, als auch alte Grabplatten zum Bau der heutigen Friedhofsmauer verwendet. Jahre später ist der Friedhof bis zum Feuergrabenweg erweitert worden. Diese Mauern sind etwas schlanker und haben eine Abdeckung aus Ziegelsteinen. Gemäß zweier Skizzen aus den Jahren 1818 und 1873 hatte man dazu den offensichtlich noch wasserführenden Haingraben entlang der erweiterten Friedhofsmauer umgeleitet.

Diese Erweiterung ist offensichtlich die Folge eines von Napoleon verfügten Erlasses "Le décret loi du 23 prairial an XII" (12. Juni 1804) ... zuerst in Frankreich und dann auch in allen französisch besetzten Ländern:
Dieses Dekret führte zu einer umfassenden und nachhaltigen Änderung des Bestattungswesens. Es durften keine Beerdigungen mehr innerhalb der Ortschaften stattfinden. Die neuen Friedhöfe sollten in rechteckiger Form jenseits der Ortsgrenze von einer Mauer umgeben errichtet werden. Die Begräbnisse sollten der Reihe nach in einem Einzelgrab und nicht mehr übereinander erfolgen. Auch die Mindestmaße für die Grabbreite und Tiefe sowie die Grababstände gab das Dekret explizit vor.

Das erste Grab auf dem "neuen" Friedhof in Reichelsheim wurde im Januar 1806 belegt.
Im Sterberegister unserer Kirchenchronik ist zu lesen:
22. Jan 1806 NB[1] Auf dem Begräbnisplatz - der Reihe nach beerdigt. Johann Wilhelm Ulrich, Bürger, starb an einem Katarrhalsfieber[2]und ward auf bescheinigte Besichtigung früher begraben und war der erste, der in die neue Begräbnisstätte beerdigt wurde.

Im Familienbuch von Reichelsheim findet man den dazugehörigen Eintrag:

Ulrich, Johann Wilhelm von Beruf Leineweber, geboren am 28.02.1733, gestorben am 20.01.1806 mit 72 Jahren, 10 Monaten und 20 Tagen, begraben am 22.01.1806


  • Erweiterung und Neuanlage von Friedhöfen zu Dorn-Assenheim und Reichelsheim/Wetterau aus den Jahren 1817, 1837-1838 und 1863 (nicht digitalisierte Akte im Staatsarchiv)
  • In einer Akte zum Plan des "neuen Kirchhof" aus dem Jahre 1818 wird aufgeführt, daß der Friedhof zu klein sei: "382 Tode sind zu Reichelsheim in zwanzig Jahren begraben worden - nemlich 128 alte und 254 Kinder"
  • Aus den Jahren 1873/1874 sind Akten zu einer geplanten Erweiterung des Kirchhofs/Todenhofs im Stadtarchiv vorhanden
  • 1877 wird im Brandkataster ein Schoppen für die Totenbahre mit aufgenommen
  • im Juli 1911 wird eine Friedhofordnung verabschiedet
  • Nach dem ersten Weltkrieg stiftet der Verein ehemaliger Frontkämpfer seinen gefallenen Kameraden ein Ehrenmal auf dem Friedhof.
  • 1928 schreibt der hiesige Pfarrer in den Reichelsheimer Heimatglocken (Kirchenzeitschrift), daß es eine zwingende Notwendigkeit ist, die Beschaffung eines Leichenwagens baldigst in die Wege zu leiten. Es ist nicht mehr zeitgemäß, daß die Särge von Männern nach dem Friedhof getragen werden.
  • 1948 wird eine kleine Trauerhalle gebaut. Bis dahin war es üblich, daß die Verstorbenen zuhause entweder in deren Wohnung oder in einem Schoppen oder auch - wenn vorhanden - in der Tenne aufgebahrt wurden.
  • in 1958 ließ die Ortsgruppe Reichelsheim des 1950 bundesweit gegründeten Verbandes der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen das o.g. Ehrenmal der ehem. Frontkämpfer um die Tafeln der im zweiten Weltkrieg Vermissten und Gefallenen erweitern.
  • 1966 wurde der Friedhof über den Feuergrabenweg hinweg in Richtung Westen auf nahezu die doppelte Fläche erweitert. Auf dem "jetzt aktuell neuen" Friedhof wurde eine neue, deutlich größere Trauerhalle errichtet.


Anmerkungen

  1. nota bene = übrigens oder auch wohlgemerkt
  2. Dieses Katarrhalsfieber ist nicht mit der fast gleichlautenden Viruserkrankung Katarrhalfieber (geschrieben ohne s) zu verwechseln, denn diese wurde erstmals im Jahre 1877 beobachtet und betrifft nur Paarhufer bzw. Wiederkäuer wie Rinder und Schafe.
    Über Katarrhalsfieber, als epidemische aus dem englischen kommende Krankheit wird dagegen schon in der "Samlung von Beobachtungen aus der Arzneygelahrheit und Naturkunde Band 4" von Johann Augustin Philipp Gesner aus dem Jahr 1773 berichtet.


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