Ortsteil Blofeld / Kirche

Aus Historisches Reichelsheim

Evangelische Christuskirche Blofeld (Erwin Koburger)

Barocke Verse (Gustav Ullrich)

Barocke Verse

Bl-Kircheninschrift.jpg

Bei Aufräumarbeiten im Turm der Blofelder Christuskirche wurde eine beschriftete Holztafel gefunden.

Sie ist unvollständig. Der rechte Rand und ein nach oben breiter werdender Keil fehlen.

Oben ist die Tafel glatt abgeschnitten. Damit fehlt der Anfang des Textes.

Die Inschrift ist lateinisch. Deshalb wurde sie mir von Pfarrer Stenzel und Mitgliedern des Kirchenvorstands zur weiteren Bearbeitung anvertraut.

1 Dietzius oeeler(
     2 Quum Christi Sanct(i)
     3 pasceret ille grege(m)
4 Tunc simul exhaust(is)
5 subsellia curis: ( )
     6 Haec quoque sacr(a)
     7 novo lumine rostra mic(at)
8 Dirige caelestes animu(m),
9 pie, lector, ad arces.
    10 Lucida nam praeco
    11 pandit ad astra viam.

Auffällig ist die Anordnung der Schrift. Die Zeilen stehen paarweise abwechselnd linksbündig oder eingerückt.

Es liegt nahe, dass über der Zeile 1 mindestens noch eine linksbündige Zeile 0 gestanden hat. Diese Zeilenstruktur deutet schon rein äußerlich auf eine Versstruktur hin.


In der ersten Zeile steht der Name Dietzius erkennbar. Dies ist die latinisierte Form des Namens, sehr wahrscheinlich Dietz.

Mein Kollege Lothar Kreuzer, der Vorsitzende des Friedberger Geschichtsvereins, wies darauf hin, dass dann auch das „DIETZII“ in der Inschrift über der Sakristeitür der Genitiv von Dietzius sein dürfte. Dias „PAST“ wäre dann die Abkürzung für eine von mehreren Möglichkeiten zur neulateinischen Bezeichnung des Pfarramtes.

Inhaltlich, aber grammatisch nicht eindeutig, ist erkennbar, dass er die Herde (Z 3 grege(m)) des Heiligen Christus (Z 2 Sancti Christ(i)) hütete (Z 3 pasceret).

Das ist ein aus dem Neuen Testament geläufiges Bild für die Tätigkeit des Pastors, was im ursprünglichen lateinischen Wortsinn „Hirte“ bedeutet.

Er war von den Sorgen (Z 5 curis) um die Kirchenbänke (Z 5 subsellia) erschöpft (Z 4 exhaust(is)) (Vorschlag von Kollege Kreuzer) und die Heilige (Z 6 sacr(a)) Kanzel (Z 7 rostra) strahlt (Z 7 mic(at)) (Vorschlag von Kollege Kreuzer) in einem neuen Licht (Z 7 novo lumine).

Die letzten 4 Zeilen sind gut erkennbar. Nur eine fehlende Endung ist sicher zu ergänzen.

Der gottesfürchtige Leser (Z 9 pie lektor) wird persönlich aufgefordert, seinen Geist (Z 8 animu(m)) auf die himmlische (Z 8 caelestes) Burg (Z 9 arces) zu richten (Z 8 dirige).

Hier wird deutlich, dass das Latein inhaltlich Zusammengehöriges (himmlische Burg) räumlich trennen kann.

Durch das Endungssytem bleibt der Bezug eindeutig. Durch die Trennung rahmt die „himmlische Burg“ (Z 8/9 caelestes arces) den Vers sozusagen ein.

Der Prediger (Z 10 praeco) öffnet (Z 11 pandit) den Weg (Z 11 viam) zu den leuchtenden (Z 10 lucida) Sternen (Z 11 astra).

Auch hier steht das Zusammengehörige „leuchtende Sterne“ in der Anordnung getrennt. Beide Begriffe bilden wiederum eine Art Rahmen um den Vers.

Im Deutschen können wir bei den trennbaren Verben Zusammengehöriges räumlich trennen. Zwischen „Wir kaufen“ und „ein“ kann, zum Leidwesen vieler Deutsch Lernenden, ganz viel untergebracht werden.

Das Motiv „zum Himmel“ zieht sich durch beide Verse. Im 1. Vers ist es die Aufforderung an den Leser, seinen Geist zur Himmelsburg zu richten.

Der 2. Vers beschreibt das Wirken des Predigers, „den Weg zu den Sternen“ zu ebnen.

Diese stilistischen Ähnlichkeiten sind sicher nicht einfach ein Spiel mit der Form. Sie kennzeichnen die unterschiedlichen Wege „zum Himmel“.

Der „pie lector“ (gottesfürchtige Leser) soll seinen Geist auf den Himmel ausrichten. In ihm dürfen wir den gläubigen Besucher des Gotteshauses sehen.

Im „praeco“ (Prediger), der den Weg dorthin öffnet, können wir den Pfarrer im Verhältnis zu seinen Gemeindemitgliedern erkennen.

Die Versstruktur ist in den vollständigen 4 letzten Zeilen klar erkennbar:

(Die kleinen Striche über den Vokalen sind die Betonungszeichen.)

    Dírige cáelestés animúm, pie léctor, ad árces
    Lúcida nám praecó pándit ad ástra viám.
Richte den Geist, gottesfürchtiger Leser, auf die himmlische Burg.
Denn der Prediger öffnet den Weg zu den leuchtenden Sternen.

Das Grundmuster des 1.Verses, der Versfuß, ist die Abfolge von einer betonten oder langen Silbe, gefolgt von zwei kurzen oder einer langen unbetonten Silbe:

der Daktylus (daa di di). Sechs Daktylen bilden einen Hexameter, einen Vers mit 6 Versfüßen. Das ist der Erzählvers Homers, Vergils und Ovids. Goethe benutzt ihn im Reinecke Fuchs:

Pfíngsten, das líebliche Fést war gekómmen, es grúenten und blúehten
Féld und Wáld; auf Húegeln und Hóehn, in Búeschen und Hécken
úebten ein fróehliches Líed die néu ermúnterten Vóegel.

Der 2.Vers, der Pentameter, besteht aus 5 Versfüßen. Er besteht aus 2 Halbversen, die jeweils 2 ganze und einen halben Daktylus enthalten (2 ½ x 2 = 5). Die Besonderheit dieses Verses ist, dass die beiden Halbverse jeweils mit zwei Tonsilben aufeinanderstoßen und der Vers mit einer Tonsilbe endet.

Dieser Pentameter kommt niemals allein vor, sondern immer als eine Art von Antwort auf einen vorangehenden Hexameter. Mit ihm zusammen bildet er ein Verspaar, das Distichon.

Das Distichon ist ein sehr beliebter Vers für kurze, oft nur aus einem Verspaar bestehende Texte. Schiller beschreibt das Distichon mit einem Distichon:

Ím Hexámeter stéigt des Spríngquells flúessige Sáeule,
     Ím Pentámeter dráuf fáellt sie melódisch heráb.

Matthias Claudius hat das Schillersche Distichon parodiert:

Ím Hexámeter zíeht der ästhétische Dúdelsack Wínd ein;
      ím Pentámeter dráuf bláeßt er ihn wíeder heráus.

Wir finden lateinisch Distichen, überwiegend wie unseres aus der Barockzeit, ganz in unserer Nähe in Ilbenstadt am Torbogen des Klosters und an der Tür des Nonnenhofs, am Georgsbrunnen in der Friedberger Burg und am Sauerbrunnen in Schwalheim.

Unser Pfarrer Dietzius hat sich mit mindestens drei Distichen auf dieser Tafel verewigt, zur Beschreibung seiner Sorge für die Gemeinde, seiner Funktion als Bauherr und zur Darstellung seiner lateinischen Bildung.

Meine Übersetzung gibt nur den Inhalt des Verspaars wider.

Vielleicht kann jemand mit einer poetischen Ader den Text so umformen, dass auch im Deutschen ein Verspaar entsteht.

Gustav Ullrich