Artikel der Rubrik "Damals" / Wohin mit dem Müll
Für den Stadtkurier 16. Dezember 2022
Rubrik "Damals"
Verantwortlich und Ansprechpartner für die Rubrik "Damals":
Horst Diehl, Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsverein Reichelsheim/Wetterau e.V. (HGV)
Bingenheimer Straße 29
mail-Adresse: h.diehl@web.de
Reichelsheim:
Wohin mit dem Müll?
In der Wetterauer Zeitung vom 30. April 2021 war ein Artikel mit obenstehender Überschrift zu lesen. Müllentsorgung, Müllvermeidung, Müllverwertung. Das sind ja
Themen, mit denen sich die Öffentlichkeit ständig beschäftigen muss. Da ging es mir durch den Kopf, wie dies – also die Müllentsorgung - in meiner Jugend in den 50er Jahren in Reichelsheim stattfand.
Müll im heutigen Sinn gab es damals ja noch gar nicht. Plastik hatte noch keinen Weg in unseren Alltag gefunden. Geheizt wurde mit Öfen, gekocht mit dem Herd. Alles Brennbare wurde verbrannt, die Asche wurde in Garten und Feld untergearbeitet. Essensreste bekamen die Schweine oder die Hühner, und wenn es gar keiner fressen wollte, warf man es auf den Mist. Die Dorfbewohner waren zum gewissen Teil Selbstversorger. Für das Wenige, das eingekauft werden musste - zum Beispiel Essig und Öl – ging man zum sogenannten Kolonialwarenladen und brachte die benötigten Behältnisse mit, die Ölflasche, den Essigkrug. Wurstdosen, die man bei den Hausschlachtungen zur Haltbarmachung benutzte, wurden in einer sogenannten Dosenverschlussmaschine grade abgeschnitten und wiederverwendet. Papier benutzte man zum Feuermachen, teilweise wurde es auch in handliche Stücke gerissen, auf einen Draht aufgespießt und in dem Häuschen mit dem Herzchen aufgehängt. Letztendlich landete dies im Pullloch, wie so manches andere, das man nicht mehr brauchte oder wollte.
Als nach der Währungsreform und dann Anfang der 50er Jahre das Wirtschaftswunder Fahrt aufnahm und mehr und mehr verpackte Lebensmittel in den Handel kamen, wuchs
auch die Abfallmenge. Natürlich versuchte man, sich der Verpackungen zu entledigen, alles Brennbare wurde verbrannt. Aber nicht alles war brennbar. Manches wurde einfach in Ecken geworfen, z. B. in die „Oan“.
Dass das keine Lösung war, sah man bald, und so wurde eine öffentliche Müllabfuhr eingerichtet; das bezieht sich auf die Kernstadt Reichelsheim, für die Ortsteile gelten andere Daten.
Familie Willi Schäfer und die Söhne Helmut und Erich waren mit ihren zwei Belgier Gäulen und ihrem Gummiwagen für viele Jahre für die Reichelsheimer Abfallbeseitigung verantwortlich. Reichelsheim war, wie Erich erzählt, die erste Kommune des Kreises Friedberg, die eine regelmäßige Abfuhr einführte (1951).
Viele interessante Details und Erlebnisse aus dieser Zeit hat er zu erzählen. Einer seiner Ringfinger erinnert ihn täglich daran.
Es gab keine einheitlichen Müllbehältnisse. Jeder nahm das, was er hatte: Eimer, Wannen, Körbe, Kisten, Kartons oder Säcke und warf hinein, was er nicht mehr wollte. So kam auch seine Verletzung zustande. Beim Zugriff nach einem scharfen Gegenstand hatte er nicht aufgepasst und sein Finger
war aufgerissen und blutete stark. Aber die Zeiten waren hart, und man wollte ja kein Weichei sein. „So ein bisschen Blut! Mach nicht so ein Geschiss! Es wird weiter geschafft!“ Man nahm es nicht ernst. Später konnte man die durchtrennte Sehne nicht mehr flicken.
Samstags vormittags fuhren also die Bachschusters ihre Runde. Das zusammengefahrene Müllgut leerte man ins Bruchfeld, in Löcher, die durch die eingestürzten Stollen des unter Tage Braunkohlebergbaus entstanden waren. Diese Senken hatten sich teilweise mit Wasser gefüllt und Vegetation hatte sich angesiedelt. Das sah zwar schön aus, aber man legte nicht so großen Wert auf diesen Aspekt. Müll rein – Erde drauf – einsäen. Vergrößerung der Anbaufläche war das Wichtigste.
Den Begriff der Mülltrennung kannte man damals noch nicht. Alles wurde zusammengeschmissen und lag auf dem Haufen. Deswegen war es üblich, dass vor dem Abkippen Interessenten kamen, die nach Wertstoffen suchten. Speziell metallische Abfälle wurden gerne geholt. Samstags nachmittags, wenn andernorts nicht mehr gearbeitet werden musste, kamen dann die „Schatzsucher“.
Heute ist es schwer vorstellbar, dass damals alles ins Loch kam, Erde drüber und gut.
Im Laufe der Jahre steigerte sich die Müllmenge kolossal. Man begann damit, in den Deponien alles Brennbare anzuzünden, legal, illegal, sch….egal. Über manchen
Landstrichen lag ein penetranter Geruch von verbranntem Plastik, Hauptsache man reduzierte die Menge des Abfalls.
Man kann sich heute kaum vorstellen, wie sorglos man damals mit dem Müll umging. So wie es heute Corona Leugner gibt, gab es damals Müll Leugner mit abstrusen Ideen. Ein Mitbürger, er wohnte damals in der Bahnstraße, schlug vor, man könne doch einfach den anfallenden Abfall auf die Felder verteilen und unterpflügen, „nach einigen Monaten ist dies alles vergangen“ meinte er.
In der ehemaligen Ziegelei in der Weckesheimer Straße wurden Altreifen verbrannt. Auf dem Grund unserer heutigen Reichelsheimer Seen bzw. Teiche findet sich eine Schicht Müll. Dieses Problem ist nicht Reichelsheim spezifisch, mit diesem Problem haben viele Kommunen heute noch zu kämpfen.
Zum 31. Dezember 1962 kündigte der Landwirt Schäfer die seit 1951 bestehende Müllabfuhr bei der Stadt Reichelsheim.
In 1962 hatte die Landwirtschaftliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft das Gebäude der ehemaligen Molkerei in der Bad Nauheimer Straße (damals Weckesheimer Straße)
übernommen, und Erich Schäfer wurde dort Geschäftsführer.
In der Zeit, in der Familie Schäfer noch im Einsatz war, war das Ganze noch eine sehr staubige Angelegenheit. Da weitgehend mit Holz und Kohle geheizt wurde, entsorgte man die Asche in offene Behälter, die bei der Entleerung so staubten, dass die Beteiligten in einer Staubwolke verschwanden.
Nach dem Rücktritt der Familie Schäfer wurde nun der Müll mit speziell dafür konzipierten LKW abgeholt. Staubfrei! Die Bürger mussten sich einheitlich eine
metallene Mülltonne mit Deckel zulegen, teurer, weniger Staub, und viel lauter.
Die Abfuhrkosten für 1963 wurden pro Haushalt monatlich auf DM 1,10 festgelegt. Für die Anschaffung der neuen Müllbehälter wurden im ersten Jahr monatlich 2 Mark
erhoben.
Nach einigen Jahren folgte der nächste Schritt zur Plastikmülltonne - aber auch der hatte seine Tücken.
Nun war es bei der Müllabfuhr zwar leiser, aber da man immer noch häufig mit Holz und Kohle heizte, begannen die Plastikbehälter – wenn die Asche noch nicht ganz kalt war – zu schmelzen und verformten sich. Auch hier musste man aufpassen.
Im Laufe der 60er Jahre wurde die Müllmenge immer mehr und der Deponieraum immer knapper. Mülltrennung gab es noch nicht.
In der Wetterau gab es bald keine Möglichkeit mehr, den Abfall irgendwohin zu kippen, auch die Blofelder Grube, die heute noch entgast werden muss, war hurtig verfüllt.
Die Idee mit dem Müllzug nach Uttershausen (Nordhessen) war geboren. 13 Jahre lang wurde der Abfall nun in Grund Schwalheim, einem nicht mehr genutzten Bahnhof der
Strecke Friedberg – Nidda – umgeladen. Das Wort Müllumladestation wurde gebildet.
Eine bayerische Firma wurde beauftragt, eine schlüsselfertige Umladestation nach Grund Schwalheim zu liefern.Der Abfall des ganzen Kreises wurde nun in grüne, röhrenförmige Container gepresst und mit der Bahn in eine ehemalige Kiesgrube transportiert.
Wer an pikanten Einzelheiten (das Wort „Deal“ war damals noch nicht so geläufig) interessiert ist, kann unter:
https://www.alexanderhitz.de/reichelsheim_horlofftalbahn_muelltrans.html bei einem Klick auf das als Link markierte Wort Korruptionsaffäre nachlesen.
Die Müllumladestation ist zu einem Abfallentsorgungszentrum geworden.
Die meisten von uns werden es kennen. Man kann seinen Abfall säuberlich getrennt zur Wiederverwertung abliefern. Informationen dazu gibt es reichlich. Im Internet veröffentlicht A. Breitkopf in einer Statistik, dass im Jahr 2019 im Schnitt jeder Bundesbürger 457 kg Abfall produziert hat. Das ist eine ungeheure Zahl, ungefähr sechsmal das Eigengewicht eines jeden.
Nach all diesen Informationen kann es in Bezug auf Müll nur noch eine Richtung geben: reduzieren / Schadstoffe vermeiden / recyclen.
Text: Irene Fleischhauer, Reichelsheim - geschrieben am 11.9. 2021
Die Aufnahme, die uns Erich Rieß zur Verfügung stellte, wurde aufgrund eines Brandalarmes gemacht und zeigt illegale Müllentsorgung und deren Verbrennung auf dem Gelände der ehemaligen Ziegelei an der heutigen Bad Nauheimer Straße.