Reichelsheim in der goldenen Wetterau Kapitel I.4b: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 4. Dezember 2019, 11:04 Uhr
4. b) Der „FREIHEITSBRIEF der „Stadt Reichelsheim"
In dem handschriftlich gefertigten „Heimatbuch der Stadt Reichelsheim“, das der frühere Lehrer Heinrich Keller 1935 abschloß und dem damaligen Bürgermeister unserer Stadt widmete, findet sich auf Seite 44 eine Kopie eines von ihm gefertigten Zeitungsartikels unter dem Titel: „Interessantes aus dem Freiheitsbrief vom J.1665.“ Dieser Zeitungsartikel, dessen Erscheinungsdatum und -ort nicht angegeben wurde, sei hier (leicht gekürzt) wiedergegeben:
„Im Jahre 1665 wandten sich die Einwohner des Flekkens
Reichelsheim in der Wetterau an den derzeitigen
Besitzer des Stadtchens,'Graf Friedrich zu Nassau,
Saarbrücken und Saarwerden, Herr zu Lahr, Wiesbaden
und Idstein', mit der Bitte, ihnen die große Gnade zu erweisen
und sie der beschwerlichen >Dienst-, Fuhr- und
Leibeigenschaft und anderer Bürden gnädiglich zu entheben
und gegen Hinterlegung einer Summe Geldes bei
ihren hergebrachten uralten Privilegien, Freiheiten und
Stadtrechte zu lassen, was maßen sich nicht allein alte
Documenta fünden, sondern auch die Ältesten unter ihnen
bezeugen würden, daß ihre Vorfahren und Einwohner
zu besagtem Reichelsheim von alterslıer als freie
Bürger und undienstbare Unterthanen bei den vorigen
Hochgräflichen Nassauisch-Saarbrückischen Herrschaften
wären gehalten und Stadtrechte gegönnet< worden.
Während >böser Kriegszeiten< (= 30jähr. Krieg) hatten
sich einige Fremde, >Leibeigene<, in Reichelsheim niedergesetzt,
und die >Hochgraflichen gnädigen Herrschaften<
bürdeten den Einwohnern immer mehr Lasten und
Fronfahrten auf, u. a. Fruchtfahrten nach Frankfurt, Hanau
und Ebersgöns im Amt Cleeberg.
Der Graf Friedrich erkennt an, daß >Städt und Flekken,
deren Einwohner mit sämtlichen Freiheiten versehen
und begnadigt< sind, merklich wachsen und zunehmen, also daß sowohl die Herrschaften als die Untertanen
selbst großen Nutzen, Gedeihen erfahren, >Wir haben
auch hierbei sonderlich angesehen und wahrgenommen,
daß unsere Unterthanen des Fleckens Reichelsheim
mittlere Zeit sie zur Leibeigenschaft und Dienstbarkeit
gezogen worden, an Mannschaften und sonsten
sehr abgenommen, welches sowohl Uns, Ihrer Herrschaft,
zu Nachteil und Unnutzen, als ihnen selbst zu großer
Beschwerung und Schaden gereichen tut<.
Die nachgesuchte Freiheit wird >gnadig< erteilt gegen
>Erlegung zweyer Tausent Gulden, jeden zu 30 Albus
und den Albus zu 8 Pfennig gerechtnet<. Alle Frucht,
Fuhr-, Dienst- und Leibeigenschaft sollen zu ewigen Tagen
und Zeiten verschwinden. Dagegen soll das >Dienstgeld<
keineswegs nachgelassen sein und >richtig und unweigerlich
an unseren Keller (= gräflicher Amtmann in
Reichelsheim) geleistet werden<. Damit sich mehr
>Mannschaft in den Flecken hineinziehen< möge, werden
die Einwohner angehalten, Tore und Mauern zu reparieren,
die Landwehren aufzurichten, die Tore zudem mit
Gittern und Wächtern - >sonderlich zu gefährlichen
Kriegszeiten< - zu besetzen. Der, welcher in den Flecken
zuziehen will, soll gegen Erlegung eines gewissen Stücks
Geldes der Leibeigenschaft ledig sein; dagegen soll ein
>Mann oder Weibsperson von Reichelsheim, die in eines
unser zugehörigen Dörfer ziehen würde, die Befreiung
verlieren und Uns mit Leibeigenschaft wiederum zugethan
sein<.
Die Bewohner von Reichelsheim werden verpflichtet,
ihre Wohnhäuser in >wohlanständige Bauweise< zu erhalten,
die verfallenen in Ordnung zu bringen und die freien
Plätze zu bebauen, so dann >jeder Zeit einen guten
Trunck Wein und Bier in einem billigen Preiß im Zapfen
zu haben<. Die Gemeindeämter sind mit Zuziehung des
Kellers mit tüchtigen Männern zu besetzen, auch jeder,
der bei Rat und Gericht gezogen wird, soll >beständigen
Alters, guten Namens und Leumunds, auch so dann womöglich
Lesens und Schreibens kundig sein<. Auf dem
Rathaus soll wie bisher Gericht gehalten werden.
>Diesem zu wahrer Urkund haben Wir dießen Freyheit-
Brief mit eigenen Händen unterschrieben und Unßer
größeres lnsigill wißentlich hieran hängen lassen. -
So gegeben, den fünfzehnden Aprilis, im Jahre Christi
Eintausendt Sechshundert Sechzig Fünf<.“
Reichelsheim mag also bereits im 15. oder eher im 16.
Jahrhundert durch einen der Grafen von Nassau „Stadtrechte“
erhalten haben, nachdem der Ort, wie es damals
gefordert war, die Voraussetzungen erfüllt hatte: eine
Landwehr gegen fremdes Territorium, mächtige Mauern
und Türme zum Schutze der Menschen, eine prächtige
Kirche und ein repräsentatives Rathaus. Dies alles hatte
Reichelsheim spätestens 1570 erreicht, also zu dem Zeitpunkt,
als Reichelsheim ein eigenes nassauisches Amt
geworden war und zum Symbol dafür ein neues Rathaus
erhalten hatte.
Seuchen und der entsetzliche Dreißigjährige Krieg
hatten, wie dargestellt, den Ort verändert, besser: ihn
verkommen lassen: Alteingesessene Familien waren
ausgestorben, manche durch Plündereien verarmt, andere
verschleppt oder geflohen; wieder andere Familien
waren neu hinzugezogen, bzw. während des Krieges hier
„hängengeblieben“. Manch ein „Glücksritter“ des langen
Krieges mag sich hier mit seinem Sold oder seiner
Kriegsbeute ein verwaistes Anwesen gekauft haben.
Damit allerdings waren für die Herrschaft, aber auch
für die alteingesessenen Reichelsheimer neue Probleme
entstanden: Wie sollten diese Neubürger behandelt werden?
Wie Leibeigene, was sie in ihren früheren Ortschaften
waren? Oder nach den alten Rechten der Stadt?
Oder sollten alle Reichelsheimer nun wieder als Leibeigene,
verbunden mit den herkömmlichen Hand- und
Spanndiensten, rechtlich eingestuft werden ?
Solange der Krieg tobte, konnten diese Rechtsfragen
nicht geklärt werden. Und solange der Landgraf von
Hessen Herr von Reichelsheim war (1637 bis 1647 aufgrund
eines Urteils des Reichskammergerichtes), solange
konnten die Reichelsheimer nicht hoffen, rechtlich
anders gesehen und behandelt zu werden als die Bingenheimer
oder die Echzeller.
Doch nachdem der Westfälische Frieden beschlossen
worden, die Nassauer wieder in ihre Herrschaftsrechte
eingesetzt worden, die ersten Wunden des langen Kampfes
geheilt waren und auch eine gewisse Ruhe und vielleicht
sogar wieder Aufbruchsstimmung eingetreten war,
da erinnerte man sich in Reichelsheim seiner alten „Freiheiten“
und „Privilegien“.
Die Bemühungen der Reichelsheimer hatten Erfolg,
sie wurden wieder „freie Bürger und undienstbare Unterthanen“:
dem Ort wurde wieder „Stadtrecht“ gegönnt.
Wie aus dem Zeitungsartikel Heinrich Kellers zu ersehen,
gab Graf Friedrich dem Ersuchen nicht uneigennützig
nach. Er suchte auch einen Weg, Reichelsheim wirtschaftlich
zu helfen, wobei er allerdings seinen eigenen
Vorteil nicht aus dem Auge ließ: Er ließ sich die Urkunde
nicht nur durch 2000 Gulden „vergolden“, er befreite
sich zugleich von der eigenen herrschaftlichen Pflicht, für
die Sicherheit der Stadt zu sorgen; das mußten nun die
Reichelsheimer Ortsbürger auf eigene Kosten erledigen!
Die Reichelsheimer brauchten zwar keine weiten
Fahrten mehr zugunsten der Herrschaft, aber auf eigene
Kosten zu leisten, doch wenn sie Gesellen, Dienstpersonal
oder andere Hilfen einstellten, so mußte an den Grafen
„Dienstgeld“ gezahlt werden.
Wie Kellers Bericht verdeutlichte, mußten all die, die
neu nach Reichelsheim ziehen wollten, ein „Einzugsgeld“
an den Grafen bezahlen. Sollte die Hoffnung des
Grafen Wirklichkeit werden und Reichelsheim zu einem
Anziehungspunkt für viele Menschen aus der Umgebung
werden, so sollte es auch sein Gewinn sein: Einzugsgeld
sollten sie ihm bezahlen und dann auch noch ihre Arbeitgeber
Dienstgeld.
Daß die Reichelsheimer natürlich Steuern zahlen
mußten, das wird ihnen auch noch in diesem „Freyheits
Brief“ in Erinnerung gerufen:
„Desgleichen sollen auch Unsern Bürgern und Einwohnern
zu Reichelsheim dasjenige, was sie Jahres Uns
oder der Herrschaft an Steuer- oder Reichsschatzungen
auch sonsten nach Besag und Ausweis der Kellereirechnung
an Konten zu erledigen schuldig sind, ohnweigerlich
zu entrichten."
Auch wenn Reichelsheim natürlich nicht mit Friedberg
oder Frankfurt, diesen „Freien Reichsstädten“, die
nur dem Kaiser unterworfen waren, vergleichbar war:
gegenüber den anderen Flecken in der Wetterau hatte
Reichelsheim durch diesen Freiheitsbrief, durch die Verleihung
der Stadtrechte eine etwas hervorgehobene Stellung.
Doch „frei von Pflichten“ war kein Reichelsheimer:
jeder Ortsbürger wurde zu den verschiedensten Diensten
eingesetzt. Befolgte er nicht, wann wo er zu was eingeteilt
war. so wurde er rigoros zur Kasse gebeten.
Jeder männliche Ortsbürger (=Besitzer von Grund
und Boden innerhalb der Stadtmauern, allerdings
nicht die Pfarrer, die Lehrer oder die Amtmänner,
da sie dem Landesherrn direkt unterstanden) hatte
lohnfrei Dienst zu leisten z. B. beim Wegebau, beim
Bachreinigen, bei dem Bau und der Erhaltung von
Landwehr und Stadtmauer mit den Türmen, bei den
Tag- und Nachtwachen im Ort und außerhalb desselben...