Ortsteil Reichelsheim / Erinnerungen von Albert Nohl / Heft 11 / Schlachtfest

Aus Historisches Reichelsheim

Das Schlachtfest (Albert Nohl Heft 11 ab Seite 5)

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In einem bäuerlichen Betrieb der Wetterau wurde im Sommer fleißig gearbeitet. Da hatte der Arbeitstag meist seine 16 - 18 Stunden. Der Verbrauch an Kräften war groß. Da musste nachgeholfen werden mit Essen und Trinken. Dann wurde im Winter reichlich geschlachtet. Das erste Schwein musste vor Weihnachten sein Leben lassen, dann kam zwischen den Jahren oder anfangs Januar die große Schlacht, bei der 2 Schweine geopfert wurden.

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Dieses Fest dauerte dann 1 1/2 bis 2 Tage. Oft wurde dann im Februar oder auch im Anfang des Märzes noch ein 4 Schwein geschlachtet. Ab 1902 etwa wurde es Mode, daß mittlere und große Betriebe bei der großen Schlacht ein Öchschen (Stierchen) metzelten. Um die Zeit des Schottener Sommermarktes, der um den 12. August jeden Jahres gehalten wurde, kamen die Juden aus Staden oder Echzell und hatten einen Viehtreiber bei sich, der an Stücken eine kleine Herde von 10-12 Jährlingen hinter sich herzogen. Der Jude ging mit einer Peitsche hinterher und trieb die Tiere an. Sie zogen von einem großen Bauernhaus zum anderen und boten ihre Tiere zum Kauf an. Sie fanden meist guten Absatz. Ein Tierchen kostete je nach Größe 100.- bis 150.- Mark. Man prüfte zunächst das Fell des Tieres, um von ihm aus auf eine Freßlust oder gute Mast schließen zu können. Tiere mit zartem Fell wurden

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solchen mit rauhem Fell vorgezogen. Hatte man einen Stier erworben, dann wurde er mit aller Kraft angegangen, d.h. richtig gefüttert. Man stopfte in sie hinein, was nur hineingehen wollte. Dies war nicht so schwer, hatte man doch in der Zeit nach der Ernte einen solchen Überschuss an Futter aller Art, daß den Neuankömmling im Stall mühelos satt und damit fett machen konnte. Es fehlte nicht an Klee, an Rübenblättern, an Kleie und Schrot und später an Rübenkraut von Dickwurz und Zuckerrüben. Man zog seinem Milchvieh nicht das geringste ab und hatte sein überschüssiges Futter gut in Westen (Fett = a. Geldwesten) angelegt. In wenig Wochen nur hatte man so viel Fleisch und auch Fett auf das Tier draufgearbeitet, daß sich das angelegte Geld, sowie Mühe und Arbeit gelohnt hatten. Sich rühmend und prahlend konnte man dann um die Weihnachtszeit beispielsweise von einem Stier sagen, er wog beim Schlachten 90 Pfund im Vorder- und 104 Pfund im Hinterviertel. Das waren die Maßstäbe

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die man so zu Grunde legte. Nicht immer wurde das Fleisch des gesamten Tieres auch behalten und zum größten Teil verwurstelt, es wurden auch Hälften oder Viertel abgegeben. Wer einen Ochsen oder Stier schlachtete brauchte zum Schlachtfest 2 volle Tage. Auch meine Familie fing so ums Jahr 1902 oder 03 mit dem Kauf und der Mast eines Stierchens an. Es war vom Stadener Jude, dem "Bockstößer" wie er im Volksmund hieß, weil den Wert und die Wahrheit seiner Worte mit dem Ausruf bekräftigte (beteuerte) "Nu soll mich der Bock stoßen!". Vater wollte nun etwas besonderes aus ihm machen. Er wurde in den vordersten, damals leeren, Schweinestall gestellt, weil wir im kleinen Kuhstall keinen Platz für ihn hatten. Es war zur Zeit der Kartoffelernte also in der Zeit in der es den für das Rindvieh so gefährlichen Stoppelklee gab. Dieser

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war für junges und altes Rindvieh gleich gefährlich. Im Pansen der Tiere entwickelten sich nämlich so Gärgase und zwar in einer solchen Menge und mit einer solchen Spannung, daß oft schon nach kurzer Zeit die Tiere, deren Lunge so eingeengt wurde, daß sie erstickten. Erkannte man die Gefahr rechtzeitig waren die Tiere durch das Offenhalten des Maules mit einem Strohseil, durch einführen eines Gummischlauches in den Pansen, durch das dauernde Drücken des Pansens von der linken Seite her oder als letztes Mittel durch das Stechen des Tieres mit dem "Trokar" auf der linken Seite zwischen der 6. und siebten Rippe zu retten. Nun war es in der Kartoffelernte, wo die ganze Familie den ganzen Tag auf dem Felde war, in der unser Stier seinen Stoppelklee bekam und auflief. Niemand war da, der sich um ihn gekümmert hätte und als man schließlich nach Hause kam und im Stall

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nachschaute, lag es verreckt im Stall. Das war nicht nur für den Vater sehr unangenehm, sondern auch ganz besonders für mich, der sich schon lange über den Kauf eines Stieres gefreut hatte, waren wir doch auch nun den Nachbarn ringsum gleichgestellt, die schon jahrelang ihren Stier schlachteten und abends, wenn sie in unser Haus kamen, mit der Menge und der Güte des zarten Ochsenfleisches prahlten. Auch ich aß schon im Geiste zarten Rindsbraten und leckere Cevelatswurst und nun diese furchtbare Enttäuschung. Hätte man nur etwas Gerstenstroh unter den Stoppelklee gemischt, so wie wir es später taten, wäre unser Stierchen am Leben geblieben. Wie oft habe ich später aufgelaufene Tiere, Rinder und Kühe umhergeführt, oder gepumpt, d.h. seitlich gestoßen, wodurch die Gase durch die Speiseröhre und das Maul entwichen. Auch in der Nachbarschaft habe ich dieses Amt ausgeübt.

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Ich entsinne mich noch genau, wie Frau Spamer aus Mainz, die in Nachbar Eimers in der Herbstzeit den Haushalt versah, damit alle Eimers aufs Feld zur Kartoffelernte gehen konnten, an die Mauer kam und um Hilfe rief, weil ein Rindchen aufgelaufen war. Ich führte es am Strick im Hofe umher, denn die Bewegung ließ einen Teil der Gase entweichen, während man in Eile nach dem Tierarzt Humpf schickte, der dann auch schnell zur Stelle war und das Rindchen mit dem Dreikant stach. Der Erfolg war der, daß das Tier gerettet wurde. Ein Bauernsprichwort sagt: "Gut gefrühstückt, spürt man den ganzen Tag, gut geschlachtet das ganze Jahr und gut geheiratet das ganze Leben!" Also gut mußte geschlachtet werden, das war für einen Bauern eine Hauptsache. Die Vorbereitungen für den Schlachttag begannen schon einige Tage vorher. Die Hausfrau putzte den Kessel aus Kupfer,

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reinigte die "Bollen" (Holzbehälter für Fleisch und Wurstfüllsel), Schüsseln und Bretter und backte Kuchen oder Flerrekuchen. Alles wurde bereit gestellt und hergerichtet. Der Hausherr sorgte für Holz als Hausbrand , holte den schweren Waschtisch aus Buchenholz herbei und reinigte den Fleischständer zur Aufnahme des Solberfleisches und der Schinken. Salz, Pfeffer, Nelken, Majoran und Salpeter wurden eingekauft, dazu Kordel und nach Angaben des Metzgers die erforderliche Menge Därme (Mittel- und Buttdärme sowie Kranzdärme). So erwartete man den Schlachttag. Lange vor Tagesgrauen standen die Eltern auf und machten zuerst das Feuer unterm Kessel an, damit das Wasser, wenn der Metzger kam, kochte. Er brauchte davon eine ganze Menge. Die Hausfrau versorgte zunächst ihr Vieh und bereitete den Kaffee. So um 07:30 oder 08:00 kam der Hausmetzger, es war der Vetter des

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Vaters, der auf der Hauptstraße wohnende Wilhelm Nohl I., der von uns der "Streser" oder nach dem 1. Weltkrieg der "Stresemann" genannt wurde. Er bekam zunächst erst einmal einen Kaffee, der in Gemütsruhe eingenommen wurde. Dann ging es an die Arbeit. Der Metzger oder sein Gehilfe gingen in den Schweinestall und fesselten das Schlachttier am rechten Hinterlauf und zerrten es, meist unter großem Gequietsche von seiten des Tieres aus dem Stall. Dann wurde es mit am Scheunentor hochgebunden. Ich konnte als Junge die Schreie des Tieres nicht hören, lief in die Nebenstube, die Schlafstube, und steckte unter gleichzeitigem Zuhalten der Ohren den Kopf unter die Bettdecke, um das Schreien des Schlachttieres nicht hören zu müssen. Nach dem Anbinden bekam das Tier vom Metzger mit einem schweren Holzhammer einen Schlag auf die Stirn, der es betäubte und umsinken ließ. Nun öffnete der Metzger durch einen Stich mit

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dem Metzgermesser die Schlagader am Hals in Richtung auf das Herz. Das auslaufende Blut wurde in einer Pfanne aufgefangen und diese, wenn sie gefüllt war in einen Eimer geschüttet und von einer Person kräftig geschlagen. Dadurch wurde das schnelle Gerinnen des Blutes verhindert. Nach dem Ausbluten kam das tote Tier in den Brühtrog, wo es mit heißem, nicht kochendem Wasser übergossen wurde, was man brühen nannte. Einige Minuten später prüfte dann der Metzger, ob sich die Borsten des Tieres ausreißen liesen. Gelang das, nahm er die Scharre und entfernte Haut, aber nur die alleräußerste, mit Borsten durch Scharren. Auch die Klauen wurden gebrüht und so bald als möglich ausgezogen. War das Tier nun von der Haut und der Mehrzahl der Borsten befreit, kam das Schwein, von kräftigen Männerfäusten gepackt, auf den Waschtisch und wurde mit

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kaltem Wasser übergossen. Dann ging man mit scharfen Messern daran, den Körper des Toten Tieres gründlichst zu säubern. Mit kräftigen scharfen Strichen wurden die letzten Borsten noch entfernt. Die Sehnen der Hinterläufe wurden freigelegt und das "Heßholz" durchgesteckt. Nun konnte man das Tier aufhängen und es ausnehmen. Wenn man soweit war, d.h. wenn der Metzger das Schwein glücklich hängen hatte, stand meist die gesamte Familie am Schauplatz der Handlung um das Tier herum. Mit Interesse wurde die Arbeit des Metzgers verfolgt. Er schnitt vom After her das Tier bis zum Nabel auf. Die Därme wurden herausgenommen, die Blase und der Nabel entfernt, das Becken geöffnet und das Mastdarmende herausgeschnitten. Der Schmelzer, d.h. das Schmalz mit der Niere kam heraus. Auch Herz, Lebr und Lunge schnitt der Meister heraus. Prüfend und sorgend hingen alle Augen am Metzger und seiner Arbeit, und hatte dieser dann, kritisch schauend und forschent, festgestellt, daß die

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Eingeweide gesund seien, atmete alles erleichtert auf, denn nicht immer war das der Fall. Mal war die Lunge mit Tuberkelherden verseucht oder es wurden Trichinen festgestellt, dann hatte man vergeblich das Schwein gemästet, es wurde verworfen und kam auf den Schindanger statt in den Kessel. Nach dem Ausnehmen wurde das tote Schwein gespalten und später gevierteilt. Nun wurden die Viertel ausgebeint, die Schinken, das Kochfleisch und das Solberfleisch abgetrennt. Das Kochfleisch kam mit den Schwarten im xxxxxxx in den Kessel, ebenso der Kopf, die Lunge und das Herz, während die Leber roh gelassen wurde. Die Därme wurden geputzt und umgedreht, die Bratwurstdärme, der Dünndarm, wurden auf dem Schleißbrett geschleißt. Dann war man soweit, daß man sich ine Pause gönnen konnte, es wurde zunächst einmal gefrühstückt. Dazu gab es den letzten Schwartemagen von der vorjährigen Schlacht, so wollte es die Tradi-

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tion. Schnaps oder Apfelwein wurden herbeigeholt, damit der alte, oft schimmelgraue Schwartemagen besser rutschte. War diese Arbeit geschafft wurde festgestellt (durch Stechen mit einer Eßgabel), ob das Wellfleisch denn noch nicht gar sei. Sobald dieser Fall eintrat, gab es auch für die Gäste und vor allem die Angehörigen viel zu tun. Es begann das Griebenschneiden. Auf Brettern aus Buchenholz wurde das betrieben und dabei sich oft die Finger am heißen Fleisch verbrannt. Den Schmelzer hatt man kaltgestellt und nun wurde vom Metzger mit geschickter Hand und ein paar Handgriffen die Haut vom Schmalz gelöst. Erstere wurde zu einem Behälter nach Art und Form eines Darmes zusammen genäht. In ihn füllte man die köstliche Cervelatswurst, die sich in der Schmelzerhaut besonders gut frisch erhielt. Das Quell=(Well=)fleisch wurde nur so unter der Hand versucht. In Oberhessen galt das Herz als besondrer Leckerbissen, in Rheinhessen dagegen gar nicht.

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Hier war einem der Herzmuskel viel zu trocken. Dagegen wünschte man sich hier die Nieren als Spezialität. Landes Art, Landes Sitte! Die Oberhessen verstanden es nicht, eine gute Leberwurst zu bereiten, was den Rheinhessen trefflich gelang. Hingegen vermochten die Rheinhessen keine gute Cervelatswurst zu bereiten. Dieses glückten den Oberhessen vorzüglich. Am frühen Nachmittag, so um 13 Uhr kam das Mittagessen auf den Tisch, das in der Regel aus einer guten Fleischsuppe mit Nudeln oder Reis als Beilage bestand, zu der Schweinsrippchen mit Sauerkraut, Meerrettich und Kartoffeln kamen. Zu diesem reichlichen Essen gehörte aber auch ein vorzüglicher Magen, und nicht jeder vertrug dieses. Um die Kaffeezeit, 16 Uhr etwa, gab es noch einmal Kaffee und Kuchen (Flerrekuchen o. anderes) und zuletzt am Abend als Abschluß - zumindest in Rheinhessen - Rippchen und Kraut. Alle Wurstsorten wurden auch noch versucht. Hatte man glücklich alles gepackt, d.h. sich seinem Magen und Därmen einverleibt, war man mehr als gesättigt. Nicht jeder Magen fand sich mit dieser Kost zurecht.