Artikel der Rubrik "Damals" / Erinnerungen an das alte Haus Turmgasse 13

Aus Historisches Reichelsheim

Für den Stadtkurier 06. Juli 2018
Rubrik "Damals"

Verantwortlich und Ansprechpartner für die Rubrik "Damals" ist:
Horst Diehl, Vorsitzender des Heimat- und Geschichtsverein Reichelsheim/Wetterau e.V. (HGV)
Bingenheimer Straße 29
mail-Adresse: h.diehl@web.de


Bildbeschreibung:


Reichelsheim

Erinnerungen an ein altes Haus
Ein Hirtenhaus in der Turmgasse 13 ? Davon hatte keiner meiner Bekannten und auch ich selber noch nie gehört. Dass das kleine, alte Haus an der Stelle, wo heute das stattliche Gebäude von Erwin Fich steht, ein Hirtenhaus war, war überraschend für uns alle.
Wir kannten es noch gut aus unserer Kindheit und Jugend. Es war anders als die Häuser der Umgebung. Es hatte zwei Eingänge, einen von der rechten und spiegelverkehrt einen von der linken Hofseite. Dort gab es jeweils einen ebenerdigen Eingang, wo man sofort in der kleinen Küche stand. Dann führten ein paar Stufen in einen Aufenthaltsraum, Wohn- und Schlafzimmer kombiniert. Eine weitere Treppe ging in den ersten Stock zu weiteren Schlafgelegenheiten. Auf der anderen Hausseite war die Einrichtung ebenso.
Das Haus war als mundartlich „Gemȭhaus“ Gemeindehaus bekannt, es gehörte der Gemeinde.
Auf der einen Seite wohnte in der besprochenen Zeit die Familie Klein mit zahlreichen Kindern und Enkeln. Herr Klein war Totengräber und auch für andere gartentechnische Arbeiten oder Straßenpflege der Stadt verantwortlich. Frau Klein (Kleins Lina) war die „Duurefraa“, das heißt, sie wusch die Toten und richtete sie für die Beerdigung her. Damals gab es ja keine Leichenhalle oder Trauerhalle, die Toten wurden zuhause aufgebahrt bis zur Beerdigung, das heißt, die Angehörigen konnten intensiv Abschied nehmen und noch drei Tage mit ihrem Verstorbenen zusammen sein. Nicht zu jeder Jahreszeit war das angemessen und angenehm. Aus heutiger Sicht ist es unvorstellbar; heute muss der Tote ja sofort aus dem Haus gebracht werden.
Im Hof des Hirtenhauses gab es eine kleine Stallung, wo Stallhasen, Hühner, ja sogar ein Schweinchen gehalten wurden, Die zahlreiche Familie musste ja ernährt werden.
In der nördlichen Hausseite wohnte Frau Bühler, die Bühler-Pauline mit ihren vier Töchtern, Sie trug z.B. den STERN aus und etliche andere Zeitschriften. Sie war eine Seele von Frau, freundlich, hilfsbereit und zupackend, wo es nötig war. Sie lebt im Gedächtnis derer, die sich noch an sie erinnern können, als „oich gout fraa“.
Dieses Gemeindehaus hat seinen alten Namen „Hirtenhaus“ aus einer Zeit, als das Vieh tatsächlich noch gemeinsam auf die Allmende - allen gemeinsam gehörende Flurstücke - oder andere abgeerntete Flurstücke getrieben wurde. Dafür war dann der städtische Hirte und seine Familie zuständig, und daher kommt dieser Hausname.
In früheren Zeiten, als alle Reichelsheimer in der Landwirtschaft arbeiteten als große oder kleine Bauern oder Tagelöhner und Vieh hielten, das im Winter in kleinen, dunklen und unzulänglichen Ställen eingesperrt war, war man froh und erleichtert, wenn im Frühjahr die Tiere endlich herausgelassen werden konnten. Der Hirte mit seiner Familie war dafür verantwortlich, dass die Tiere beisammen blieben und nur das fraßen, was sie durften. Bis ins 20. Jahrhundert haben sich Relikte dieser gemeinsamen Viehhaltung erhalten.
Ich kann mich noch gut an die Kessler-Lisbeth erinnern, die mit ihrer Schnarre durch das Dorf ging und die Gänse, die die Leute dann herausließen, in die Horloff zum Schwimmen führte. Damals konnte man sich nicht vorstellen, dass man Gänse halten konnte, die keinen Zugang zum Wasser haben.
Von meiner Freundin aus Gettenau hörte ich den Spruch „Die Soi eraus, die Soi eraus, de Willem hoet gebluese“. Hier wurden die Schweinehalter mit einer Dröhte darauf aufmerksam gemacht, dass sie jetzt ihre Tiere herauslassen sollten. Ob in den 50er Jahren in Gettenau noch Schweine öffentlich gehütet wurden, weiß ich nicht.
Die Verkehrsverhältnisse dieser Zeit haben das ja noch zugelassen. Die Straßen hatten häufig keine Teerdecke, es gab kaum Autos. Der eisenbereifte Ackerwagen aus Holz war das meist gebrauchte Transportmittel. Bei dieser Geschwindigkeit konnte auch eine Tierherde problemlos die Straße entlang getrieben werden.

Text Irene Fleischhauer, HGV Reichelsheim e.V.

Das Foto stammt von Willy Nohl und wurde von Familie Dörfler zur Verfügung gestellt.


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